Donnerstag, 5. Juni 2014

Der Weltkrieg auf dem Nachttisch

Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg
Quelle: Europeana 1914-1918
Die Gesellschaften der Zwanziger Jahre waren traumatisiert von der Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs ist eine Flut von Neuerscheinungen zum Thema auf den Markt gekommen. Michael Bienert hat einige davon unter die Lupe genommen.

Der Erste Weltkrieg hat viele literarischer Talente ausradiert und reichlich mediokre Autoren hervorgebracht. Einer war mein Urgroßvater. In einem Erinnerungsbuch von Frontkämpfern hat er hinterlassen, wie er sich vor Verdun das Eiserne Kreuz verdiente. Als Zugführer eroberte er eine französische Stellung und schaffte es, sie im Nahkampf mit Senegalesen stundenlang zu halten. Die meisten Kameraden überlebten das Gemetzel nicht, dennoch schließt Opas Bericht mit den Worten: „Die Stimmung war trotz allem dem Erlebten die Beste geblieben.“
Das Frontkämpferbuch erschien 1936, es sollte die Jugend auf kommende Heldentaten einstimmen und trägt eine handschriftliche Widmung an den Sohn, also meinen Großvater, der im Zweiten Weltkrieg gen Frankreich zog. Dieses Familienerbstück, eine meiner Kindheitslektüren während langer Nachmittage unter Omas Obhut, ist ein Fremdling zwischen meinen Büchern. Deshalb vermüffelte das Buch jahrelang neben alten Schallplatten im Keller, genau wie das 1930 in Stuttgart erschienene, mehrere Kilo schwere Bayernbuch vom Weltkriege. Aber so ein illustriertes Prachtwerk kann man doch nicht einfach auf den Kehrichthaufen der Geschichte werfen!
Nun haben es die alten Weltkriegsbücher wieder auf meinen Schreibtisch geschafft, denn die 100. Wiederkehr des Kriegsbeginns rollt unerbittlich wie ein Panzer auf uns Kulturjournalisten zu. Pünktlich zum Jahresbeginn begannen alle Medien aus vollen Rohren zu feuern. Und die Strategen in den Buchverlagen haben pünktlich schwerste Geschütze aufgefahren: Neue Bücher zum Thema Weltkrieg signalisieren Bedeutsamkeit meist durch stattliche Seitenzahlen plus Papiergewicht.
Zu den schmaleren Neuerscheinungen gehört das Jugendbuch Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg von Nikolaus Nützel, das sehr einfach und klar von den Schrecken dieses Krieges berichtet und, denke ich an meine Kindheitslektüre, durchaus sein Publikum finden könnte. Wieso jedoch ein so uninspiriert gestaltetes Buch für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert wird, bleibt mir ein Rätsel.

Schlafwandler und Strategen
 
Die Neuerscheinungen würden tatsächlich gelesen, versichert mir ein Mitarbeiter einer großen öffentlichen Bibliothek! Allen voran Christopher Clarks Bestseller Die Schlafwandler, der als Brite kein Problem damit hat, die Deutschen von ihrer im Versailler Vertrag fixierten Alleinschuld freizusprechen. Seit seinem Erscheinen hat das Buch an Brisanz noch gewonnen, denn Clark beschreibt minutiös die Überforderung vieler Staatslenker im Jahr 1914 angesichts der Ereignisse auf dem Balkan, die sich ähnlich dramatisch und unvorhergesehen entwickelten jüngst die politische Lage in der Ukraine. Vor hundert Jahren  herrschte so viel Rivalität, Misstrauen und Sprachlosigkeit zwischen den Großmächten, dass eine Handvoll serbischer Terroristen in Sarajevo die europaweite Mobilmachung auslösen konnte.
Bei dieser Sichtweise rücken allerdings die langfristigen Vorbereitungen auf das große Morden in den Hintergrund. Das kritisiert Gerhard Henke-Bodenschatz in seiner kurzen Geschichte des Ersten Weltkrieges (bei Reclam), die auf  bewunderungswürdige Weise einen konzisen Überblick über die komplizierten politischen Konstellationen, die weltweiten Frontverläufe, Methoden der Kriegsführung und Propaganda, kurz alle wesentlichen Aspekte des Themas herstellt – in einer einfachen und klaren Sprache, die niemanden einschüchtert. Henke-Bodenschatz sieht Parallelen zu heute weniger im Versagen der Politiker, eher schon in der aggressiven Wirtschaftsweise der Großmächte: „Es traten ja Staaten mit kapitalistischen Volkswirtschaften gegeneinander an, für deren Wachstum der stärkere Zugriff auf Märkte, Rohstoffe, Arbeitskräfte und Kapitalstandorte in fremden Herrschaftbereichen immer dringender geworden war. Diese weltweiten Interessen ihrer Wirtschaft unterstützen die Staaten am besten dadurch, dass sie von ihresgleichen prinzipiell als Großmacht anerkannt wurden: Als Macht, deren Recht, überall Einfluss zu nehmen und mit zu entscheiden, allseits respektiert wurde.“
Einig sind sich die Historiker in der Bewertung des Ersten Weltkriegs als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, die den Boden für späteres Unheil bereitet hat. Ohne die Niederlage hätte es in Deutschland keine Revolution, keine Inflation, keine so schwache Republik von Weimar und kein Drittes Reich gegeben. Sehr konkret hat der Krieg das Leben aller Europäer verändert, hat überall Lücken und Wunden in die Familien geschlagen, der Nachkommen wir sind. Das könnte ein Grund dafür sein, warum dieses 100. Jubiläum viele Leute intensiver beschäftigt als sonstige Jahrestage.

Irland zwischen den Fronten

Sehr persönliche, familiäre Gründe hätten ihn dazu gebracht, einen Roman über den Großen Krieg zu schreiben, erzählt der irische Autor Sebastian Barry, Jahrgang 1955, in einem Youtube-Interview. Die Idee entstand schon um die Milleniumswende. Würden seine Söhne, so fragte sich Barry, im 21. Jahrhundert ähnliche Schrecken  erleben? In der angelsächsischen Lesewelt wurde das Buch vor Jahren stark beachtet, nun ist Ein langer, langer Weg von Hans-Christian Oeser ins Deutsche übertragen worden. Der Autor erspart seinem Helden, dem kleinwüchsigen irischen Soldaten Willie Dunne, nichts: Frost und Läuse im Schützengraben, gespenstische Gasangriffe, mörderische Nahkämpfe von Auge zu Auge, sinnlose Sturmangriffe über Berge halb verwester Leichen, das Zurückgeschicktwerden an die Front  nach einer Verwundung und zuletzt den armseligen Tod wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation. Dabei bleibt der Erzähler ganz nah bei seiner Figur, einem jungen Mann aus einfachen Verhältnissen, der sich ständig in die Hosen pinkelt und dennoch weiterkämpft, weil er zu seiner Familie und seiner Braut zurück will.
Am Anfang glaubt Willie noch, der Blutzoll der Iren in Belgien sei der Preis, den seine Landsleute dem britischen Königreich für die im Mai 1914  versprochene politische Selbstverwaltung zahlen müssten. Doch während eines Fronturlaubs in Dublin wird Willie plötzlich in die Innenstadt kommandiert, um in seiner britischen Uniform auf irische Aufständische zu schießen. In Willies Krieg gibt es nie einen klaren Frontverlauf. Das macht diesen Roman psychologisch spannend. Eher hilflos reagiert Willie auf den Tod so vieler Kameraden, auf die Kälte der Stabsoffiziere, auf die Befehlsverweigerung eines Bekannten, der hingerichtet wird.
Der Krieg höhlt ihn aus, entfremdet ihn der Braut und dem Vater. Dennoch stirbt Willie nicht als entseelte Kampfmaschine. Der Erzähler belässt seiner Figur etwas Unschuldiges und Zartes, eine menschliche Restwärme, die auch dem Leser einen Halt auf dem Weg durch dieses Jammertal gibt. Die Sprache dafür ist rau und poetisch zugleich: „Der Verbindungsgraben war ein rauchender Durchlass mit einem schmutzigen Teppich aus zermalmten Toten. Willie konnte noch das zerstoßene Fleisch in den zerschlissenen Uniformen spüren, in denen seine Stiefel versanken ... Was in diesem Krieg benötigt wurde, dachte Willie, waren Männer aus Stahl, die durch das Chaos weitermarschieren konnten, so dass es, wenn sie in tausend Stücke gesprengt wurden, zu Hause keine Leidtragenden gab und kein Höchstmaß an Schmerz.“
Autoren wie Ernst Jünger haben nach dem Krieg ihren viel literarischen Ehrgeiz daran gesetzt zu beglaubigen, die Stahlgewitter hätten gestählte Mannskerle hervorgebracht. In Barrys Roman entsteht nur ekelhafter Menschenmatsch, der stinkt „wie eine Million verwester Fasane.“ Das macht den Unterschied zwischen Gewaltpornografie und Literatur aus.

Krieg abseits der Front

Wie vielschichtig Künstler und Schriftsteller ihr Kriegserlebnis verarbeitet haben, führt Dietrich Schubert in Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914-18 vor Augen. Ein bedrückendes Buch, schwergewichtig, materialreich, mit rund 370 Fotos, Handskizzen, Gemälden aus der Fronthölle, darunter viele Arbeiten von Otto Dix, Max Beckmann, Ludwig Meidner, aber auch von wenig bekannten Künstlern. Nur leider liest sich das Werk des Heidelberger Kunsthistorikers wie ein Vorlesungsmanuskript, kaum begreiflich, warum der Verlag bei diesem aufwendig produzierten Buch kein strengeres Lektorats hat walten lassen. Während Schubert sich und den Leser mitten ins Schlachtgetümmel wirft, schleicht sich der Herausgeber Horst Lauinger in der dicken Anthologie Über den Feldern wie auf Samtpfoten an das Kriegsthema heran. 70 Autoren aus 16 Sprachen kommen in abgeschlossenen Erzähltexten zu Wort, von denen die wenigsten eine Fronterfahrung behandeln, dafür aber erhellen, was es heißt, in Krieg führenden Gesellschaften zu leben.
Davon handeln auch Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg, die Reclam zum 100. Jahrestag in neuer Übersetzung auf den Markt bringt. Švejk schwadroniert sich durch den Militärapparat des morschen Habsburgerreiches, um nur nicht an die Front zu müssen, denn das wäre das Ende. Die Front rückt näher - doch ehe es den Helden erwischen konnte, starb der Autor Anfang 1923 mit nur 39 Jahren an den Folgen seines unsteten Lebenswandels. Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk blieben ein Fragment, was ihrer Beliebtheit nichts schadete: Egal wo, Militärbürokratien ähneln sich weltweit und überall gibt es Leser, die an ihrer satirischen Demaskierung ihre Freude haben.
Der Heldentod in österreichischer Uniform war für die meisten Tschechen kein lockendes Ziel. Jaroslav Hašek ließ sich 1915 von russischen Truppen gefangen nehmen,  nach der russischen Revolution diente er Politkommisar in der Roten Armee. Zurück in Prag brachte er Švejks Abenteuer als Groschenhefte im Eigenverlag unter die Leute. Der Übersetzer Antonín Brousek betrachtet Švejk als modernes Erzählprojekt und wählt daher einen anderen Weg als 1926 die erste und bisher einzige Übersetzerin Grete Reiner. Sie hatte das umgangssprachliche Tschechisch der Hauptfigur in ein grammatisch inkorrektes Pragerdeutsch („Böhmakeln“) übertragen. Dieser Kunstgriff trug viel zum Erfolg des Buches in Deutschland bei. Doch für heutige Leser klingt Švejk dadurch ferner, trotteliger und verstaubter als nötig. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war das anders, schon 1928 brachten die Theateravantgardisten Piscator und Brecht den Švejk auf die Bühne. Diese Figur kam ihnen gerade recht, um das Publikum mit einer neuen, analytischen und gesellschaftsverändernden Theaterform aufzustören.
Tatsächlich redet Švejk im Original ein zwar umgangssprachliches, aber korrektes und differenziertes Tschechisch. Antonín Brousek hat es in ein adäquates Hochdeutsch übertragen, das sich flüssig und komfortabel liest. Gern auch vor dem Einschlafen. Jeden Abend lese sein Vater im Švejk, erzählt der 1972 geborene Schriftsteller Jaroslav Rudiš im Nachwort zur Neuübersetzung. Der Roman sei Vaters Bibel, die ihm seit Jahrzehnten Trost spende. Was wäre Schöneres über ein Kriegsbuch zu berichten?

Nikolaus Nützel, Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der erste Weltkrieg mit uns zu tun hat. Ars edition, München 2013. 144 Seiten, 19,99 Euro
Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Weltkrieg zog. DVA, München 2013. 896 Seiten, 39,99 Euro
Gerhard Henke-Bockschatz, Der Erste Weltkrieg. Eine kurze Geschichte. Reclam, Ditzingen 2014. 300 Seiten, 22,95 Euro
Sebastian Barry, Ein langer, langer Weg. Steidl, Göttingen 2014. Seiten 24 Euro
Dietrich Schubert, Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914-1918. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2014. 560 Seiten, 68 Euro
Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur. Herausgegeben von Horst Lauinger, Manesse Verlag, Zürich 2014. 784 Seiten, 29, 95 Euro
Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Reclam, Ditzingen 2014. 1008 Seiten, 29,95 Euro

Erstdruck: literaturblatt für baden-württemberg, Heft 3/2014

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