Sonntag, 10. Februar 2013

Baden in Blau - Eine Nacht im "Tauten Heim" in der Hufeisensiedlung Britz


Von Elke Linda Buchholz - Beim Aufwachen fällt der Blick auf die blauen Wände des Schlafzimmers. Was für ein Blau! Der Kalender auf dem Schreibtisch zeigt den 21. Januar. Das Datum stimmt. Nur die Jahreszahl irritiert: 1931. Wie es damals wohl hier war, als die Erstmieter ihr neues Domizil bezogen? Einfache Leute werden es gewesen sein, kleine Angestellte oder Beamten, vielleicht mit Kindern. Ob ihnen das Blau im Schlafzimmer gefiel? Intensiv, fast leuchtend ist es einfach da. Überhaupt nicht kühl, eher zärtlich. Eine Farbe voller Anmut, Klarheit und Eigensinn. So wie das ganze kleine Haus, das vom flachen Pultdach bis zur Originaltürklinke denkmalgerecht wiederhergestellt in der Britzer Hufeisensiedlung auf Feriengäste wartet. Wer sich hier einquartiert, findet sich unversehens auf einer Reise in die späten Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre: in die Ära des Architekten Bruno Taut, der mit seinen Berliner Reformsiedlungen für Kleinverdiener tausende von Wohneinheiten entwarf. Heute stehen sie auf der UNESCO-Welterbeliste.

Schon gestern Abend bei der Anreise, als man durch den eisigen Ostwind von der U-Bahn herstapfte und das heimelig warme Häuschen betrat, avancierte der taubenblaue, taut-blaue Schlafraum im Obergeschoss sogleich zum Lieblingszimmer. Immer wieder zieht es einen während des Aufenthalts in dieses Blau zurück, für ein minutenlanges Farbbad. Das warme Braunrot des Kachelofens und der Fußbodendielen setzt einen kräftigen Gegenakzent dazu. Ein Stahlrohrsessel nebst Beistelltisch genießt seinen elegant-stylischen Auftritt auf dieser Farbbühne. Auch Wilhelm Wagenfelds berühmte Bauhaus-Lampe darf nicht fehlen. Aber bekannte Design-Ikonen sind hier in der Unterzahl.

Das "Taute Heim", wie die Vermieter Ben Buschfeld und Katrin Lesser ihr Schmuckstück genannt haben, ist kein musealer Showroom für ultramoderne Klassiker. Sie haben überlegt, wie es hier wirklich ausgesehen haben könnte - damals. Denn Bruno Taut war kein Radikalverfechter modernistischer Formgebung, sondern Realist ohne ideologische Scheuklappen. 1924 schrieb er über den Frust moderner Architekten: "Wenn sie die Leute einziehen sahen mit ihren Massen an Möbeln, mit dem unendlichen Krimskrams und Gerümpel, so mussten sie resignieren und sich schließlich damit zufrieden geben, dass ihre Bauten und Siedelungen wenigstens außen ein gutes Gesicht hatten." Dieser Stoßseufzer könnte auch heutigen Denkmalpflegern von den Lippen kommen. In der 1925-30 erbauten Hufeisensiedlung sind alle Fassaden denkmalgerecht instandgesetzt. Die mehrgeschossige "Rote Front" an der Ostflanke der Siedlung strahlt in Originaltönen. Rhythmisch wechseln gelbe, weiße, rote und blaue Fassaden in den niedrigeren Häuserzeilen, die das eigentliche "Hufeisen" im Zentrum der Siedlung umgeben. Aber innerhalb seiner eigenen vier Wände richtet sich jeder Bewohner nach Gutdünken ein, ob Neobarock, Ikea oder Country-Style.

Im Tauten Heim hat die Vision des Architekten vom modernen Leben zwei leidenschaftliche Perfektionisten gefunden. Tausende Arbeitsstunden und ein Vermögen haben sie in einen verrückten Traum investiert. Als die Gartendenkmalpflegerin und der Graphikdesigner 2010 das würfelförmige Haus erstmals betraten, das am einer Reihenhauszeile so aufmüpfig aus der Bauflucht hervorspringt, war ihr Eroberergeist angestachelt. Die beiden leben selbst seit 15 Jahren in einem anderen Haus der Hufeisensiedlung, nur 100 Meter entfernt, und sind aktive Mitstreiter des Fördervereins. Sie blättern Fotos vom damaligen Zustand des heutigen Feriendomizils auf. Braune Siebziger Jahre-Fliesen im Bad, großblumige Tapete im Wohnzimmer, Billigspüle in der Küche und Schimmel hinter der Wanne. Ein hässliches Entlein. "Da muss man natürlich hindurchsehen!" sagt Katrin Lesser: "Die Originalsubstanz! Alle Fenstergriffe, die alten Kachelöfen, Türen, so viel war nirgends sonst erhalten. Ein Horror, wenn ein anderer Hauskäufer das alles herausgerissen hätte..." Über Nacht stand der Entschluss fest, dieses Kleinod zu retten. Die Idee eines Museums erwies sich als nicht realisierbar. Nun soll die Vermietung als Ferienhaus wenigstens einen Teil der Kosten wieder einspielen. Die Nachbarn verfolgen das Ausnahmeprojekt mit Wohlwollen. Es ist das einzige Ferienhaus weit und breit - und zieht eine ganz spezielle Klientel an. Die ersten Architekturfans haben sich bereits begeistert im Gästebuch verewigt. Eine "alte Britzerin" fühlte sich sechs Jahrzehnte zurück in ihre Jugend versetzt. Eine Kunsthistorikerin bezog hier Quartier, um einen Vortrag über Zwanziger Jahre-Architektur vorzubereiten. Das renommierte Iconic Houses Network im Internet verzeichnet das Taute Heim neben Architekturikonen wie der spektakulären Villa "Fallingwater" von Frank Lloyd Wright.

Es gibt sich von außen bescheiden, umgeben von zierlichen Obstbäumen und Wildrosenhecken. Nach akribischen Quellenrecherchen hat Katrin Lesser auch dem Garten sein Gesicht zurückgegeben. Der Apfelbaum vor der Terrasse passte streng genommen nicht ins originale Bild, durfte aber trotzdem bleiben. Er revanchiert sich mit köstlichen Früchten. Aus der Ernte des letzten Herbstes haben die Besitzer Apfelmarmelade gekocht. Ein Gläschen davon erwartet die Gäste auf dem Frühstückstisch. Tautes Heim mit allen Sinnen. Aber jetzt muss ein Kaffee her! Man schaut sich in der hellen Küche um. Blaues Geschirr steht in der Anrichte bereit, beides stammt vom Trödler und darf seine Nutzungsspuren zeigen. Die Milch ist über Nacht hinter den Holzschiebetüren des "Naturkühlschranks" unterm Fenster frisch geblieben. Dieser funktioniert durch die Außenkälte so gut, dass das moderne Elektrokühlgerät getrost ausgeschaltet bleiben kann. Aller Komfort der Gegenwart, vom Toaster bis zur Spülmaschine, verbirgt sich in stilecht nachgebauten Küchenmöbeln und im erhaltenen Speisewandschrank. Die Mikrowelle anzuschmeißen käme einem vor wie ein Sakrileg. Zaghaft dreht man an den alten Knöpfen des historischen E-Herds und rückt einen Emailtopf auf die Platte. Es funktioniert! Ein Handwerker hat den Dinosaurier aus der Frühzeit der elektrifizierten Hauswirtschaft aufgearbeitet. Auch der braunrote Steinholzfußboden in der Küche erforderte Könnerschaft: Einer der letzten Spezialisten seines Fachs reiste eigens aus Schwaben an und brachte seine Rohstoffe gleich säckeweise mit. Sägemehl, Zement, Eisenoxidpigmente und diverse Salze wurden nach Geheimrezeptur vor Ort verarbeitet.

Als Vorbild für die Kücheneinrichtung diente eine Musterküche, die Bruno Taut für seine Zehlendorfer "Onkel Tom"-Siedlung entworfen hatte. Über die Interieurs der Hufeisensiedlung selbst weiß man leider wenig. Alte Fotos, Grundrisse und Zeitschriftenjahrgänge wurden zum Kompass einer denkmalpflegerischen Gratwanderung. Das große Doppelbett mit der Einbauschrankwand entstand als Neuentwurf nach einem patenten Klappbett von 1929. Die moderne Gastherme im Keller wärmt stilechte Heizkörper, ähnlich denen, die Taut in seinem eigenen Haus im Brandenburgischen Dahlewitz installierte. Die Bewohner der Hufeisensiedlung mussten ursprünglich mit Kohleöfen vorliebnehmen. Zwischen Authentizität und zeitgemäßem Komfort trifft das Ambiente einen ganz eigenen Ton: stilsicher und bis ins Kleinste durchdacht.

Tausend Entscheidungen waren zu treffen. Bruno Taut mochte keine Vorhänge. Aber hängten die einstigen Bewohner nicht trotzdem welche auf, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen? Die neu genähten, grauweißen Küchenvorhänge nehmen die horizontale Farbgliederung der Wände auf und passen sich quasi in Chamäleon-Manier ihrem Umfeld an. In allen Räumen stößt man auf rechteckige "Farbfenster" mit freigelegten Partien der originalen Wandanstriche. Eine Restauratorin hat Schicht für Schicht millimeterdünn mit dem Skalpell abgehoben, um die Originalton dingfest zu machen. Noch nie zuvor war in einem Interieur der Hufeisensiedlung eine wissenschaftliche Farbanalyse gemacht worden! Selbst Architekturhistoriker überraschten die Befunde. Das ehemalige Kinderzimmer kombiniert fröhliches Gelb mit einem kobaltblauen Kachelofen. Das Wohnzimmer setzt mit gedeckten Grüntönen auf gediegene Harmonie.

Erschöpft von der Erkundung der Winkel, Schubladen und Schränke des Hauses, die immer neue Überraschungen bergen, fällt man auf das weiche schilfgrüne Sofa. Jetzt ein bisschen Musik... Da steht ja ein Radio. Den wuchtigen bakelit-braunen Kasten, Baujahr 1932, ans Laufen zu bringen, ist ein Abenteuer für sich. Zunächst lässt er nichts hören als minutenlanges Brummen. Als die alten Röhren warmgelaufen sind, dringen knarzend und quietschend erste Töne durch den Äther. Wer es lieber störungsfrei mag, stöpselt seinen IPod an eine rückseitig versteckte Buchse und der Rundfunkveteran tut als Lautsprecher seinen Dienst. Im Kachelofen knistert das Feuer. Hier lässt es sich aushalten.  

"Tautes Heim - Glück allein". Den Hausspruch hat Katrin Lesser selbstgehäkelt an die Wand gehängt. Soviel liebevolle Ironie muss der Architekt aushalten, der Gehäkeltes hasste. Den Besuch eines "verwöhnten Großstädters" in einem modern eingerichteten Heim stellte er sich vor "wie ein erfrischendes Bad". Da hatte er recht.

Eine Nacht kostet ab 150 €, Mindestaufenthalt 3 Nächte. Informationen unter


Zum Tag des Offenen Denkmals steht das Haus zur Besichtigung offen. 

Erstdruck im TAGESSPIEGEL vom 10. Februar 2013. Wir veröffentlichen hier die abweichende Manuskriptfassung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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